TRANSPORT
, 2014
„History is about the past. But memory is about future.“ Timothy Snyder
TRANSPORT ist eine künstlerische Arbeit über den Transformationsprozess nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und behandelt das Spannungsverhältnis zwischen Erinnerungen und Geschichte. Meine Recherche zu dieser Arbeit begann im Archiv des "Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen“. In einer Akte namens “Bilddokumentationen zu Angriffen auf die Seegrenze der DDR” faszinierten mich Fotografien von extra für die Flucht präparierten oder hergestellten Transportmittel, wie ein mit Motor und schwarzem Segel ausgerüsteten Surfbrett, sogar ein selbst konstruiertes U-Boot - alles Dokumente gescheiterter Fluchtversuche über die Ostsee. Im Sommer 2011 bereiste ich mit meiner Fotokamera die die vermeintlichen Fluchtorte entlang der deutschen Ostseeküste. Meine Ziele jedoch waren ungewiss. Ich suchte nicht nach Tatorten oder Motiven, sondern ahmte Bewegungen nach. Ich suchte nach vergangenen Gefühlen und fand Geschichte, die noch keine ist.
Der Werkkomplex TRANSPORT verwebt unterschiedliches Bild- und Quellenmaterial miteinander: Fotografien von Fluchtfahrzeugen gescheiterter Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die Ostsee, Fotografien der vermeintlichen Fluchtorte 30 Jahre danach und Textdokumente verschiedenster Erinnerungsbilder einer bestimmten Zeit. Die Arbeit wurde als als Wandarbeit für den Ausstellungsraum und als Künstlerinnenbuch in Zusammenarbeit mit dem Gestalter Florian Lamm und umgesetzt.
07. August 2011, Gägelow und Groß Klützhöved
Sehr geehrter A.R.,
„Deutschlandradio Kultur“ erinnerte mich heute daran, dass vor genau 100 Jahren Leonardo da Vincis Gemälde „Mona Lisa“ aus dem Pariser Louvre gestohlen wurde. Am Nachmittag des 21. August 1911 entführte der Anstreicher Vincenzo Peruggia mit zwei Komplizen die „Mona Lisa“ aus dem Salon Carré. Peruggia hatte das Bild einfach abgehängt und mitgenommen. „Der Dieb gab nach seiner Verhaftung an, dass sein Verlangen, sie zu stehlen, immer größer wurde, je öfter er im Louvre vor der „Mona Lisa“ stand. In den zwei Jahren, in denen sie sich in seinem Besitz befand, hütete er sie wie einen kostbaren Schatz.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete, dass die Gioconda während der Zeit ihrer Abwesenheit den Gipfel ihres Ruhmes erklomm. „Bilder Tizians und Corregios, die das gestohlene Bild flankiert hatten, erschienen keine Aufmerksamkeit mehr wert. Die nackte Wand, aus der vier verwaiste Nägel ragten, zog alle Blicke auf sich.“
Meine Kopien aus der Akte „Bilddokumentation zu Angriffen auf die Seegrenze der DDR“, gefertigt von der „Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Rostock“, beschreiben einen 20-jährigen Karosseriebauer, der plante am 26. Juni 1989 von Boltenhagen aus die Wismarer Bucht zu überqueren. Er band einen aufgeblasenen Autoschlauch auf ein Sperrholzbrett. An der Unterseite des Bretts befestigte er einen Gebläsemotor aus einem „Moskwitsch“. Er hoffte mit diesem selbstgebauten Transportmittel die westdeutsche Küste zu erreichen. Mit seinem „Skoda“ und dem vermeintlichen Fluchtfahrzeug im Kofferraum fuhr er von Zwickau an die Ostseeküste. Hierfür benötigt er einen gesamten Tag. Kurz vor seinem Ziel wurde er an einer Kontrollstelle in Gägelow von der Polizei angehalten. Sein Vorhaben wurde entdeckt.
Zwei Eindrücke meiner Reise an diesen Ort sind geblieben. Einer davon ist, dass das Ostseewasser im westlichen Mecklenburg deutlich salziger als im Osten ist. Den zweiten hinterlässt mein Gespräch mit G.C. An diese Stelle noch mal herzlichen Dank für Ihre Einführung. Meine Gesprächsmitschrift sende ich Ihnen als Anlage.
Soweit, Ihre S.S.
Anlage zum Brief vom 07. August 2011:
S.S.: Gab es nach 1989 Verurteilungen ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter?
G.C.: Nein. Soweit ich weiß nicht.
S.S.: Aber es liegen doch Strafbestände vor. Es gibt Beweise.
G.C.: Möglich. Jedoch kann DDR-Unrecht nicht mit bundesdeutschem Recht verhandelt werden.
S.S.: Das verstehe ich nicht.
G.C.: Man konnte nach 1989 nicht einfach das westdeutsche Strafrecht zur Grundlage der juristischen Bearbeitung von Vorgängen in der DDR machen. Grundsätzlich gilt, dass niemand für etwas bestraft werden kann, was nach den Gesetzen seines Landes kein Unrecht darstellt oder sogar geboten ist. Die Mitarbeiter des „MfS“ haben nicht gegen DDR-Recht verstoßen. Im Gegenteil, sie handelten entsprechend der Verfassung der DDR und entsprechend der Prinzipien und Arbeitsweisen des „MfS“: Sicherheit geht vor Recht. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass Bürger, die versucht haben, aus der DDR zu flüchten, hierbei gegen geltendes Gesetz verstießen. Also wurden sie zu Recht verurteilt.
S.S.: Auch die Gefängnisstrafen geschahen zu Recht?
G.C.: Das bundesdeutsche „Strafrechtliche, Berufliche und Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz“ ermöglicht es den Opfern gravierender DDR-Unrechtsakte strafrechtlich rehabilitiert zu werden. Rechtsstaatswidrige strafrechtliche Maßnahmen der DDR-Justiz werden hierbei per Gerichtsbeschluss aufgehoben. Sie können also rehabilitiert und mithilfe einer Zuwendung entschädigt werden. Die Ansprüche werden nach Überprüfung von Bedürftigkeit gewährt.
S.S.: Auch eine Chance für Wendeverlierer. Denen, deren Kraft im Sozialismus aufgebraucht wurde, garantiert das System wenigstens eine Existenz.
G.C.: Wer sagt das?
S.S.: Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Ohne die strafrechtlichen Gegebenheiten, die Sie mir hier freundlicherweise erläutern, ignorieren zu wollen: Was ist mit der Moral? Es ist doch unzweifelbar, wer hier Opfer und wer Täter ist, oder?
G.C.: Ich erläutere Ihnen die Sachlage gerne noch mal an einem Beispiel. Sehen Sie, Erich Mielke, von 1957 bis 1989 erster Minister der als Militärorganisation geführten Behörde für Staatssicherheit, wurde nach der Wiedervereinigung vor ein bundesdeutsches Gericht gestellt und verurteilt. Aber nicht wegen dem, was er in der DDR getan hatte, sondern weil das Mitglied der „KPD“ Mielke 1931 zwei Polizisten umgebracht hatte, bevor er 1932 von Deutschland nach Moskau floh.
S.S.: Wäre die Schlussfolgerung möglich, dass die Bundesrepublik nicht daran interessiert war, die Straftaten des „MfS“ vor Gericht zu verhandeln? Könnte man auch sagen, „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“?
G.C.: Ich erwähnte die Schwierigkeiten mit denen die Justiz seit der Wende umgehen muss. Die Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hat nach der Wiedereingliederung entsprechend Kräfte mobilisiert, so dass nichts unter den Tisch fällt.
S.S.: Aber es ist einiges unter den Tisch gefallen.
G.C.: Sicher. Aber grundsätzlich hat die Justiz dem Rechtsfrieden gedient, indem sie zum Beispiel Menschenrechtsverstöße, also Verstöße gegen ein höherrangiges Recht als es die jeweilige staatliche Gesetzgebung darstellt, verhandelt hat. Hierunter zählen die sogenannten Mauerschützenprozesse. In Fällen von Denunziation und Verleumdung, beispielsweise durch inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gibt es die Möglichkeit der privatrechtlichen Klage. Allerdings weiß ich im Moment von keiner. Zu beachten ist hierbei auch die relativ knappe Verjährungsfrist dieses möglichen Straftatbestands.
S.S.: Man könnte sagen, Ihr Beruf ist es, Beweismaterial zu archivieren, für Fälle, die nie verhandelt werden.
G.C.: Auch das liegt im Bereich des Möglichen. In erster Linie archivieren wir. In den Beständen der Bundesbehörde finden sie 99 Kilometer Aktenmaterial, 39 Millionen Karteikarten, fast 1,5 Millionen Fotografien und 31.000 Tondokumente. Nicht zu vergessen, zahlreiche Filme und 16.000 Säcke mit zerrissenen Akten, die wir rekonstruieren. Wir fühlen uns verpflichtet, die Rahmenbedingungen für eine historische Aufarbeitung zu schaffen. Aber welche Wege hierbei gegangen werden, können wir nicht beeinflussen. Apropos Wege, bei uns in Leipzig sind viele der ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter bei den Taxiunternehmen untergekommen. Man sagt, die Taxifahrer wissen schon wohin sie wollen, während Sie gerade erst einsteigen.
S.S.: Ich bedanke mich für das Gespräch, für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Hoffentlich wird das Wetter bald besser.
„History is about the past. But memory is about future.“ Timothy Snyder
TRANSPORT is an artistic work about the transformation process after the reunification of Germany and deals with the tension between memories and history. My research on this work began in the archive of the "Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen“ (Federal Commissioner for Stasi Documents.) In a file called “Image Documentations on Attacks on the Sea Border of the GDR”, I was fascinated by photographs of means of transport specially prepared or manufactured for the escape, such as a surfboard equipped with motor and black sail, even a self-constructed submarine – all documents of failed attempts to escape over the Baltic Sea. In the summer of 2011 I traveled with my camera the supposed escape places along the German Baltic Sea coast. My objectives, however, were uncertain. I wasn’t looking for crime scenes or motives, I was imitating movements. I searched for past feelings and found history that isn’t yet.
The body of work TRANSPORT interweaves different image and source material with each other: Archiv photographs of escape vehicles of failed attempts by GDR citizens to escape over the Baltic Sea, photographs of the alleged places of refuge 30 years later and text documents of various memories of a certain time. The work was realized for the exhibition space and as an artist’s book in collaboration with the designer Florian Lamm.
07th August 2011, Gägelow and Groß Klützhoved
Dearest A.R.,
„Deutschlandradio Kultur“ reminded me today that exactly 100 years ago Leonardo da Vinci’s painting „Mona Lisa“ was stolen from the Louvre in Paris. In the afternoon oft he 21. August 1911 the painter Vincenzo Peruggia and two accomplices kidnapped the „Mona Lisa“ from the Salon Carré. After his arrest, the thief stated that his desire to steal her grew the more often he stood in front of the „Mona Lisa“ in the Louvre. During the two years she was in his possession, he guarded her like a precious treasure. The „Süddeutsche Zeitung“ berichtete that the Giaconda reached the peak of her fame during her absence. „Pictures of Tizian and Corregio flanking the stolen painting no longer seemed worthy of attention. The naked wall, with four orphaned nails sticking out o fit, drew everyone’s attention.“ My copies from the file „Picture documentation of attacks on the sea border oft he GDR“, produced by the “District Administartion for State Security Rostock“, describe a 20-year-old coachbuilder who planned to cross the Wismar Bay on 26. June 1989. He tied an inflated car hose to a plywood board. On the underside oft he board he attached a blower motor out of a „Moskwitsch“. He hoped to reach the West German coast with this self-built means of transport. With his „Skoda“ and the alleged escape vehicle in the trunk he drove from Zwickau to the Baltic Sea coast. For this he needs a whole day. Shortly before his destination he was stopped by the police at a checkpoint in Gägelow. His plan was discovered.
Two impressions of my journey to this place have remained. One oft hem ist hat the Baltic Sea water in western Mecklenburg is significantly saltier than in the east. The second one is left by my conversation with G.C. At this point, thank you again for your introduction. I am sending you my transcript of my conversation as an attachment.
So far
yours S.S.
Attachment to the letter of 07. August 2011:
S.S.: Where there any convictions of former unofficial employees after 1989?
G.C.: No. Not as far as I know.
S.S.: But there are still penalties. There is evidence.
G.C.: Maybe. However, GDR injustice cannot be negotiated with federal German law.
S.S.: That beats me.
G.C.: After 1989, West German criminal law could not simply be made the basis for the legal handling of cases in the GDR. The basic principle is that no one can be punished for something that does not constitute an injustice under the laws of his country, or is even required. The employees of the „MfS“ did not violate GDR law. On the contrary, they acted in accordance with the constitution oft he GDR and in accordance with the principles and working methods oft he „MfS“: security before justice. In this context, it can be mentioned that citizens who tried to flee the GDR were in breach oft he law. So they were rightly convicted.
S.S.: Even the prison sentences were right?
G.C.: The Federal German „Criminal, Professional and Administrative Rehabilitation Act“ enables the victims of serious GDR injustices to be rehabilitated under criminal law. Criminal measures of the GDR judiciary that are contrary to the rule of law are lifted by court order. They can therefore be rehabilitated and compensated with a grant. The entitlements are granted after means test.
S.S.: Also a chance for system change losers/tournaround losers. For those whose strength was used up under socialism, the system guarantees at least one existence.
G.C.: Who says so?
S.S.: Let me make you another suggestion: without wishing to ignore the criminal law facts that you are kindly explaining to me here: what about morality? There’s no doubt about who’s the victim and who’s the perpetrator, right?
G.C.: I will gladly explain the situation to you again using an example. You see, Erich Mielke, from 1957 to 1989 first minister of the State Security Agency, which was run as a military organisation, was tried and sentenced by a federal German court after reunification. But not because of what he had done in the GDR, but because the member of the „KPD“ Mielke had killed two policemen in 1931 before fleeing from Germany to Moscow in 1932.
S.S.: Would it be possible to conclude that the Federal Republic was not interested in having the crimes oft he „MfS“ tried in court? Could one also say „one crow doesn’t peck out an eye oft he other“?
G.C.: I mentioned the difficulties that the judiciary has had to deal with since the fall of the Berlin Wall. The citizen’s movement oft he former GDR has mobilised forces accordingly after the reintegration, so that nothing falls by the wayside.
S.S.: But a lot of things have fallen by the wayside.
G.C.: Sure. But in principle, the judiciary has served the cause of legal peace, for example by dealing with human rights violations, i.e. violations of a higher-ranking right than the respective state legislation. These include the so-called wall protection processes. In case of denunciation and defamation, for example by unofficial employees of the State Security, there is the possibility of private lawsuits. I don’t know of any at the moment, though. The relatively short limitation period for this possible criminal offence must also be taken into account.
S.S.: One could say that your job is to file evidence for cases that never get heard.
G.C.: This is also within the realm of possibility. First and foremost we archive. In the holdings of the federal authority you will find 99 kilometres of file material, 39 million index cards, almost 1.5 million photographs and 31,000 sound documents. Not to mention numerous films and 16,000 bags of torn files that we reconstruct. We feel obliged to create the framework for a historical reappraisal. But we cannot influence which paths are taken in this regard. Speaking of ways, with us in Leipzig, many of the former unofficial employees have found accomodation with the taxi companies. They say the taxi drivers already know where you want to go while you are just getting in.
S.S.: I thank you for the conversation, for the time you took. Hopefully the weather will get better soon.